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Lars Eidinger: "Ich suche die Abgründe in mir selbst"

Die Krimi-Reihe "Tatort" hat er in "Borowski und der stille Gast" um einen unvergesslichen Bösewicht bereichert. Über die Bühne fegt er aktuell als Shakespeare-Schurke "Richard III." wie eine Urgewalt. Im ZDF-Drama "Familienfest" (Montag, 28.11., 20.15 Uhr) bringt er den Zuschauer als Sterbender zum Weinen. Im Interview mit TVdirekt spricht Lars Eidinger (40) über den Reiz des Bösen, eigene Abgründe, über Nacktheit auf der Bühne und das Schönheitsdiktat in der Schauspielbranche.

TVdirekt: Wie wichtig ist Ihnen Ihr Publikum, Herr Eidinger?

Lars Eidinger: In letzter Zeit kommen viele Leute auf mich zu, die extra nach Berlin reisen, sogar aus dem Ruhrgebiet, um mich in Berlin in der Schaubühne zu sehen. Und da ist es mir schon wichtig, dass die Leute zufrieden sind. Das ist nicht immer der Fall, weil ich manchmal auf der Bühne ziemlich viel riskiere. Das kann gut gehen, und die Leute gehen beseelt aus dem Theater. Es kann aber auch schief gehen, und dann sind sie enttäuscht.


TVdirekt: Ist das schlimm für Sie?

Lars Eidinger: Ja klar. Ich mach' das ja, damit es den Leuten gefällt. Zwar nicht, damit mir einer auf die Schulter klopft und sagt: "Das hast du gut gemacht!" Aber es geht darum, dass man gemeinsam etwas erlebt. Dass der Zuschauer sagt: Ich hätte gar nicht gedacht, dass ich mir das ansehen will, dass ich das aushalte, wenn er mich sogar in gewisser Weise abstößt. Das Interessanteste am Theaterspielen ist, die Leute zu verführen und mitzunehmen, um gemeinsam Grenzen zu überschreiten – auch was den eigenen Geschmack betrifft.


TVdirekt: Ist das auch der Reiz, den Zuschauer in gewisser Weise zu manipulieren?

Lars Eidinger: Der Zuschauer versucht ja in meiner Darstellung etwas zu sehen, wo er selbst andocken kann. Wenn er sich dann von meiner Figur nicht mehr distanzieren kann, sondern durch mich vor seiner eigenen Fratze erschrickt, also in seinen eigenen Abgrund geschaut hat – dann hat es funktioniert. Dann verbündet sich der Zuschauer zum Beispiel mit meinem "Richard III.", hofft, dass der mit seinen Intrigen durchkommt, und vergisst dabei, dass Richard über Leichen geht. Das zeigt nur, wozu wir Menschen fähig sind. In dem Fall verstehe ich mich als Spiegel. In den schaut man ja auch, um sich selbst zu erkennen.


TVdirekt: Sie lassen in Ihren Rollen tief blicken, nicht nur in die Seele. Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang Nacktheit?

Lars Eidinger: Seit dem „Sommernachtstraum“ aus dem Jahr 2006 stehe ich nun zehn Jahre später bei „Richard III“ zum ersten mal wieder nackt auf der Bühne, trotzdem gelte ich als der Schauspieler, der sich ständig auszieht.


TVdirekt: Sie machen aber keinen sehr schamhaften Eindruck.

Lars Eidinger: Ich habe im Gegenteil eher Widerstände mich öffentlich nackt zu zeigen. Und wenn es für mich inhaltlich keinen Sinn macht, bleibe ich lieber angezogen. Ich bin alles andere als exhibitionistisch veranlagt. Das Gegenteil ist der Fall.


TVdirekt: Was also motiviert Sie zur Nacktheit?

Lars Eidinger: In "Richard III." gilt es zu erklären, wie er Lady Anne dazu bringt, ihn zu heiraten – obwohl er der Mörder ihres Mannes, Vaters und Schwiegervaters ist! Meine Idee war, dass die im romantischsten Sinne größte Versprechung: „Ich würde für Dich sterben“ mehr Glaubwürdigkeit erfährt, wenn er sich nackt und schutzlos das Schwert an die Brust hält und sie bittet zuzustechen. Deshalb ziehe ich mich in der Szene aus.


TVdirekt: Wie gehen Ihre Kollegen damit um?

Lars Eidinger: Als ich mich bei der allerersten Probe zu "Richard III." einfach auszog, war meine Partnerin total überrumpelt und dachte wahrscheinlich: "Der kann noch kaum seinen Text und steht schon nackt vor mir". Aber letztlich war sie davon genau so überrumpelt wie Lady Ann und das ist Richards Taktik. Was mir allerdings nicht bewusst war, war dass das zur Konsequenz hat, dass ich den ganzen nachfolgenden Monolog auch nackt halten muss, da es wenig Sinn machen würde sich dafür extra wieder anzuziehen. Dabei geniere ich mich tatsächlich ein wenig.


TVdirekt: Sie werden nicht nur auf der Bühne, sondern auch im Fernsehen gern als heimtückischer Bösewicht besetzt. besonders eindrucksvoll im "Tatort: Borowski und der stille Gast" und "Die Rückkehr des stillen Gastes". Wie gelingt es Ihnen nur, das Böse auf so leise Art so bedrohlich werden zu lassen?

Lars Eidinger: Lustigerweise wurde mir auf der Schauspielschule attestiert, ich könne keine Bösen spielen. Und jetzt bin ich gerade dafür bekannt. Mir war allerdings schon immer klar, dass man das Böse nicht mit böse gucken oder Hände reiben überzeugend spielt. Man braucht dazu eine gewisse Abgründigkeit im Denken, eine Skrupellosigkeit, die einen über jene Grenzen hinwegträgt, die einem Anstand und Moral setzen.


TVdirekt: Wo finden Sie diese Abgründe?

Lars Eidinger: Ich suche die Abgründe in mir selbst. Ich will nicht etwas vorführen, was mit mir nichts zu tun hat. Indem ich meine eigenen Abgründe erkunde, baue ich eine Form von Identifikation auf. Sowohl von mir zu der Figur, als auch von der Figur zu meinem Zuschauer. Die Leute sollen den Bösewicht nicht von sich weghalten können, sondern sich in ihm wiedererkennen. Den größten Terror verbreitet doch eine Figur, die den Glauben daran, dass alles in Ordnung ist, untergräbt.


TVdirekt: Viele Schauspieler sagen, sie legen eine Rolle am Ende des Drehtages wie einen Mantel ab. Trifft das auch auf Sie zu?

Lars Eidinger: Ganz im Gegenteil: Ich verinnerliche meine Figuren, so dass sie ein Teil von mir werden. Aber ich empfinde das eher als eine Form der Analyse, die mir erlaubt, mit diesen Abgründen umzugehen. Deshalb liebe ich auch meinen Beruf so, weil er mir erlaubt, durch diese Form von Reflexion zu einer facettenreicheren Persönlichkeit zu werden. Und um das Bild des Mantels aufzugreifen: Ich trage diese Mäntel wie die Schichten einer Zwiebel. Und die lasse ich auch alle an, weil sie mich zu einer komplexeren Persönlichkeit machen.


TVdirekt: Um welche Facette hat Sie die Rolle von Max im Film "Familienfest" bereichert?

Lars Eidinger: Jemanden zu spielen, der stirbt, bringt einen schon an die Grenzen. Und es ist irre, dass wir bei diesem Thema so unwissend sind. Mir hat mein großes Vorbild Christoph Schlingensief dabei geholfen, der ganz offensiv mit seiner Angst vor dem Tod umging. Christoph Schlingensief hat sich ans Leben geklammert hat. Er ist dem Tod nicht mit Größe begegnet, sondern mit Schwäche. Diese Erkenntnis habe ich für die Rolle benutzt.


TVdirekt: Wie gehen Sie selbst mit dem Thema Tod um?

Lars Eidinger: Wir alle haben Angst, zu sterben. Wir haben ja schon Probleme damit, älter zu werden. Bei "Hamlet" ist der Tod das unbekannte Land, über dessen Grenze kein Reisender je zurückkehrt. Die Selbstverständlichkeit, mit der wir akzeptieren, dass wir nicht wissen, was nach dem Tod kommt, fasziniert und irritiert mich.


TVdirekt: Wenn Max schwerkrank auf seinen Tod zusteuert, ist es in Ihrer detaillierten Darstellung manchmal kaum mit anzusehen. Sind Sie ein Perfektionist?

Lars Eidinger: Wenn man es schafft, das vermeintlich Schlechte, Unperfekte und Fehler-behaftete zum Ideal zu erklären, findet auch im Makel eine Form von Perfektion. Und dann findet man auch seinen Frieden. Es gibt den japanischen Begriff Wabi-Sabi für die Schönheit von Dingen, wenn sie benutzt werden. Den finde ich dabei ganz passend. Natürlich streben wir nach Perfektion, aber die gibt es ja nicht. Und das macht uns auf Dauer unglücklich. Die Qualität meines Spiels liegt daher auch darin, dass es nicht auf die perfekte Illusion setzt, sondern sich einen Rest Ungeformtheit und Anarchie bewahrt.


TVdirekt: Perfekt zu sein, ist gerade im Fernseh- und Filmgeschäft heute total wichtig. Wer sich dem Schönheitsdiktat widersetzt, wird gelich für seinen Mut zur Hässlichkeit gefeiert…

Lars Eidinger: Aber selbst der Mut zur Hässlichkeit hat etwas Eitles und das Schönheitsdiktat legen wir selber fest. Ich werde selbst damit oft konfrontiert, vor allem von irgendwelchen Hatern im Internet die schreiben: "Kuck mal, dem fallen schon die Haare aus." Ich bin darüber auch nicht glücklich, aber das ist nun mal das Leben. Ich kuck auch nicht in den Spiegel und freue mich über neue Falten, aber ich finde, wir machen uns mit diesem Anspruch, faltenlos und mit vollem Haar zu altern, unnötig fertig. Und wohin das führt sehen wir ja, wenn wir in die Fratzen der gelifteten und gebotoxten Fehlgeleiteten sehen.


TVdirekt: Und was ist die Lösung?

Lars Eidinger: Die Ästhetik von Music-Clips, Werbespots und Hollywoodfilmen gaukelt uns eine ideale Welt vor, die nicht existiert. Wir streben aber trotzdem danach. Wenn man mit ein bisschen mehr Toleranz dran ginge, oder noch besser: mit Menschenliebe. Dann kann man in der Fehlerhaftigkeit und in der Lebendigkeit, die sich in einem Makel ausdrückt, das Leben an sich erkennen. Das würde uns ein ganzes Stück glücklicher machen.

Interview: Sabine Krempl, Fotos: ZDF, Julia von Vietinghoff